I. Heimat neu entdecken
Wie viel Realität steckt in einer Fotografie? Glauben wir doch erst durch das fotografische Bild die Welt zu erkennen. Aber kann man Fotografien trauen? „Um das fotografische Bild hat man eine neue Bedeutung des Begriffs ‚Information‘ konstruiert“, schreibt Susan Sontag 1977 in „In Platons Höhle“. In diesem Essay ihres Buches „Über Fotografie“ widerspricht sie der landläufigen Meinung, nach der Bilder alles erklären könnten: „Genau genommen läßt sich aus einem Foto nie etwas verstehen“. Später resümiert sie „Fotografie hat nur ‚verhältnismässig‘ begrenzte Möglichkeiten zur Übermittlung von Wahrheit“. Dennoch scheinen wir uns, damals wie heute, die Realität nur noch mit Bildern aneignen und erklären zu wollen. Die gegenwärtige manische Wut alles zu fotografieren und in Medien zu teilen, erzeugt eine Art von Überrealität. In rasender Frequenz werden Aufnahmen gemacht, um sie im nächsten Moment durch neue zu überlagern. Ist es das Aufsammeln von „Realitäten“, von Belegen gelebten Lebens? Kann man sich dem Gelebten nicht mehr sicher sein, wenn man es nicht fotografisch festhält?
Kaum einer anderen Kunstgattung wird dieses unendliche Maß an Authentizität zugesprochen, wie der Fotografie – aber auch keine andere ist so manipulativ. So gedeiht der Mythos von der ihr innewohnenden Wahrheit und Objektivität. Obwohl Susan Sontag das derzeitige Ausmaß milliardenfacher Aufnahmen nicht mehr erlebte, sie verstarb 2004, wusste sie bereits in den siebziger Jahren: „Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bürger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von geistiger Verseuchung.“
In einer neuen Foto-Serie „Zeitpartikel“ versuche ich der Frage auf den Grund zu gehen, wie viele Spuren, wie viele Partikel von Realität, in Fotografien enthalten sind oder sich herauslesen lassen. Ohne Kontext ist es trügerisch in Fotografien ein Abbild, von wem oder was auch immer, erkennen zu wollen. Erst der Betrachter lädt ein Bild, eine Szene, mit seinen eigenen Inhalten, mit seiner subjektiven Realität, auf. Alles was wir zu erkennen glauben, sehen wir durch den Filter unserer Bilder-Erfahrungen.
„Zeitpartikel“ kombiniert je zwei Fotografien zu einem Diptychon. Zwischen den beiden Aufnahmen liegen jeweils eine zeitliche oder eine räumliche Verschiebung des Stoffs, die unterschiedlich groß sein können. Was geben die Sujets ohne weiteren Kontext preis, was ich ihnen im Moment der Aufnahme implizierte? Erleichtert das zweite Bild das Entschlüsseln? Bis auf den Subtitel „Heimat neu entdecken“, den ich in einer Location und somit passend fand, verzichte ich aus oben genannten Gründen auf erklärende Titel der Arbeiten. Das lässt dem Betrachter die Freiheit, seine eigene Geschichte zu spinnen.
Dazu ein letztes Zitat von Susan Sontag: „Das Foto ist ein schmaler Ausschnitt von Raum ebenso wie von Zeit. In einer von fotografischen Bildern beherrschten Welt erscheinen alle Grenzen („Rahmen“) willkürlich. Alles kann von allem getrennt werden. Es ist lediglich erforderlich, jedes Mal einen anderen Ausschnitt zu zeigen. Durch Fotografien wird die Welt zu einer Aneinanderreihung beziehungsloser, freischwebender Partikel, und Geschichte, vergangene und gegenwärtige, zu einem Bündel von Anekdoten und „fait divers“.
Susan Sontags inspirierende Essay-Sammlung „Über Fotografie“ gibt es als Taschenbuch im Fischerverlag.
Technische Daten: Kameras Fujifilm GFX 50S, X-T3, X-T2, X-Pro2.
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